#Growscience: Teil II - Grundlegende Trainingsprinzipien

In den Trainingswissenschaften versucht man allgemeingültige Richtlinien zur Planung, Durchführung und Steuerung von sportlichem Training aufzustellen. An diesen Prinzipien können wir uns orientieren, um unser Training grundlegend zu strukturieren und zu planen. Für manche/n Sportler*in mögen diese grundlegenden Prinzipien offensichtlich oder überflüssig erscheinen, aber in den meisten Fällen lässt sich ein mangelnder Erfolg im Trainingsfortschritt darauf zurückführen, dass den Grundlagen nicht genügend Beachtung geschenkt wurde. Deshalb lohnt es sich auf jeden Fall, sich die „Basics“ nochmal ins Gedächtnis zu rufen.

 

I - Das Prinzip der Wiederholung und Kontinuität

Optimal ist nicht gleich optimal. Wir können uns den durchdachtesten, ausgeklügeltsten und wissenschaftlichsten Trainingsplan mit sechs Trainingseinheiten die Woche, genauen Wiederholungszahlen und eine ganze Jahresplanung mit Mikro-, Makro- und Mesozyklen überlegen. Aber solange wir nicht in der Lage sind, diesen Trainingsplan in unseren Alltag zu integrieren und jedes zweite Training überspringen müssen, weil wir zu gestresst sind von unserem Alltag und anderen Prioritäten neben dem Training (klingt komisch, aber so etwas soll es tatsächlich geben), wird jeder einigermaßen sinnvoll zusammengeschusterte Trainingsplan mit zwei bis drei wöchentlichen Trainingseinheiten bessere Ergebnisse liefern.   
Das gilt für jedes Fitnesslevel. Ich kenne viele Sportler*innen, die sich einen Profi-Trainingsplan raussuchen, der eine absolut disziplinierte Regenerationsstrategie verlangt, nur um sich dann am Wochenende jedes Mal die Ergebnisse der ganzen Woche im Club zu vernichten – am Feiern gehen ist ja nichts Verwerfliches, aber die Ergebnisse wären deutlich besser, wenn man sich von vornherein eingestehen würde, dass man nicht gut genügend Regenerationszeit am Wochenende hat, um wie ein Profi zu trainieren.

Diese Erkenntnis finde ich so wichtig, dass sie für mich das essenziellste Prinzip der Trainingsgestaltung darstellt! Vor allem im Kraftsport ist die Kontinuität und das stetige Dranbleiben so unerlässlich – denn Muskelwachstum passiert nur langsam, erfordert Geduld und eine sich langfristig kontinuierlich steigernde Trainingsbelastung. Auch auf molekularer Ebene wird diese Kontinuität belohnt: Langfristiges Krafttraining scheint die Konzentration an Satellitenzellen (mehr dazu hatte ich in Teil I der Reihe geschrieben) zu erhöhen und erst wenn der Körper sich an den Muskelschaden gewöhnt hat, kann wirkliches Muskelwachstum erzielt werden. (Einen ähnlichen Gedanken verfolgt Eric Helms in seinem Buch „The Muscle and Strength Pyramid“ –“, welches ich jedem/ jeder Kraftsportler*in uneingeschränkt ans Herz legen kann). [1] [2]

Ich weiß: schnelle Ergebnisse will jeder. Jeder will „voll durchstarten“ und „schnell noch seine Strandfigur kriegen“. Diese Leute sagen dann: „Nur zweimal die Woche für 20 Minuten ins Fitnessstudio? Das bringt doch gar nichts??“ Ich sage: Was nichts bringt, ist es, eisern und diszipliniert seinen 6-er Split im Fitnessstudio durchzuziehen – jedes Training penibel auf Instagram zu dokumentiert – nur um vier Wochen später Ende Januar komplett überfordert und demotiviert das Handtuch zu schmeißen, heimlich die Instagram-Posts wieder verschwinden zu lassen und spätestens Ende Februar in einer unsportlicheren Ausgangslage als nach Weihnachten zu sein.

Das beste Trainingsprogramm ist jenes, welches wir gerne, ohne übermäßig viele Unterbrechungen und somit langfristig (!) durchführen können.    
Damit schaffen wir eine gute Basis, um unser Training nach Bedarf weiter auszubauen und unsere Erfolge auch langfristig zu sichern. Kontinuität ist der Schlüssel zur Disziplin und nicht andersherum.

Deshalb sollten wir bei der Trainingsplanung ehrlich mit uns selbst sein:

Wie oft schaffe ich es realistisch pro Woche ins Fitnessstudio/ zum Sport zu gehen?

Wie oft habe ich bisher in der Woche Sport getrieben?  
(Noch gar nicht? Es ist keine Schande, sich einen Plan zu schreiben, der ein Training pro Woche vorsieht, wenn es einem dabei hilft, sich langfristig an den Sport zu gewöhnen – regelmäßig wenig Sport ist immer besser als gar kein Sport.)

Wie flexibel und spontan mag ich in der Woche sein? Welche sozialen und familiären Verpflichtungen habe ich?

„Kontinuität ist die grundlegendste Voraussetzung für alle Adaptionen wie z.B. das Muskelwachstum.“

 

II - Das Prinzip des belastungswirksamen Reizes

Damit wir einen Leistungszuwachs erzielen können, muss die Belastung, der wir unseren Körper aussetzen, groß genug sein, um ihn vor eine Herausforderung zu stellen. Ist der Reiz zu gering, brauchen sich unsere Muskeln nicht anzupassen und stärker zu werden. Vom Geschirrspülen oder Aufräumen ist (leider) noch niemand wirklich muskulös geworden. Gleichzeitig darf der Reiz auch nicht zu groß ausfallen, damit wir Verletzungen und andere Überlastungserscheinungen vermeiden – das geht Hand in Hand mit dem vorhergegangenen Prinzip der Kontinuität! Die Höhe der Belastung, die notwendig ist, um eine Anpassung hervorzurufen hängt stark von individuellen Faktoren und dem jeweiligen Trainingszustand ab – die Belastung in Relation zur individuellen Leistungsfähigkeit bezeichnet man als Beanspruchung. Trainingsvariablen, über welche wir die Beanspruchung steuern können sind zum Beispiel die Intensitäten der einzelnen Übungen, die Frequenz unseres Trainings oder das gesamte Volumen einer Trainingseinheit und das summierte Volumen einer ganzen Trainingswoche. Das heißt auch, dass die Beanspruchung eine Gleichung mit vielen verschiedenen Variablen ist und wir beim Ausbleiben von Adaptionen viele verschiedene Möglichkeiten haben, unser Training anzupassen. Mehr dazu im nächsten Teil, wenn wir die konkreten Belastungsvariablen näher betrachten.

„Ein Reiz muss eine gewissen Intensitätsschwelle überschreiten, um eine Anpassung auszulösen.“

 

III - Das Prinzip der progressiven Belastungssteigerung und der Variation der Trainingsbelastung

Dieses Prinzip knüpft an die Grundüberlegungen des vorherigen Prinzips an. Hat sich unser Körper/ unser Muskel an einen überschwelligen, belastungswirksamen Reiz angepasst, so kann dieser Reiz schon per Definition nicht mehr überschwellig sein. Wenn wir zum Beispiel ein bestimmtes Gewicht im Bankdrücken sicher bewegen können und jetzt und in alle Ewigkeit genau dieselbe Anzahl von Wiederholungen mit demselben Gewicht, derselben Anzahl von Sätzen und demselben Tempo heben, so wird unser Körper nicht mehr mit einer Anpassung reagieren müssen – der vorher belastungswirksame Reiz ist jetzt nicht mehr wirksam. Außerdem würden wir eine Menge Muskelwachstum auf der Strecke liegen lassen, wenn wir unsere Muskeln immer nur auf dieselbe Art und Weise belasten, wie zum Beispiel durch die ewig selben Übungen. Wichtig ist also nicht nur, dass wir unser Training so gestalten, dass es intensiv genug ist, sondern auch, dass wir unser Training mit der Zeit an unsere gesteigerte Leistung anpassen und die Methoden, mit denen wir unsere Muskeln beanspruchen, variieren. Hier kommen Konzepte wie die Periodisierung und eine längerfristige Trainingsgestaltung ins Spiel.

„Der Trainingsreiz muss sich der wachsenden Leistung unseres Körpers anpassen und ihn vor neue Herausforderungen stellen.“

 

IV - Das Prinzip der optimalen Gestaltung von Belastung und Erholung

Wer schwer trainiert, muss sich auch genügend trainingsfreie Zeit schaffen, um dem Körper die nötige Ruhe zur Superkompensation zu geben. Dieses Prinzip scheint den meisten bestimmt ein „No-Brainer“ zu sein und trotzdem liegen genau hier in der Praxis viele Fehler, welche einen langfristigen Trainingserfolg verhindern. Um unserem Körper konstant weitere Leistungszuwächse abgewinnen zu können, müssen wir, wie wir uns im letzten Prinzip angeschaut haben, progressive die Beanspruchung erhöhen. Umso höher die Beanspruchung, desto erholsamer müssen jedoch auch unsere Regerations- und Pausenphasen sein. Vor allem für fortgeschrittenere Athlet*innen, welche ein recht hohes Arbeitspensum benötigen, um belastungswirksame Reize zu setzen, wird die angepasste Erholung zu einer wichtigen Stellschraube, um weiter Erfolge zu erzielen. Überschreitet die Beanspruchung längerfristig die Erholung, kann es zu einem Zustand des Übertrainings und damit neben Leistungseinbußen auch zu gesundheitlichen Einschränkungen kommen.

Die optimale Gestaltung von Belastung und Erholung bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis von Trainings- zu Ruhetagen, sondern in kleinerem Rahmen auch auf die einzelne Tagesgestaltung und im größeren Rahmen auch auf das Abwechseln von intensiveren Trainingsphasen mit Phasen, in denen mit geringerer Intensität trainiert wird (sogenannte Deloads).  Ernährung, Schlaf und psychosoziale Einflüsse unseres Umfelds spielen alle eine wichtige Rolle bei einer ausreichenden Regeneration.

„Auf einen belastungswirksamen Reiz muss eine entsprechende, angemessene Phase der Ruhe und Erholung folgen, um eine Leistungssteigerung ermöglichen zu können.“

 

Konkrete Belastungsvariablen

Nachdem wir uns jetzt einen Überblick über die physiologischen und konzeptuellen Grundlagen des sportlichen Trainings und des Muskeltrainings im Besonderen verschafft haben, schauen wir uns im nächsten Teil die konkreten Trainingsvariablen an. Dabei liefert uns jede dieser Trainingsvariablen eine Antwort auf eine andere zentrale Frage der Trainingsplanung.

Die zentralen Fragen und die damit verbundenen Parameter der Trainingsplanung lauten:

„Welches Gewicht soll ich wählen und wie hart soll ich trainieren?“
—> Intensität und Ausbelastung

„Wie viel soll ich trainieren?“
—> Volumen

„Wie oft soll ich trainieren?“
—> Frequenz

„Wie passe ich mein Training langfristig an?“
—> Periodisierung und Zyklisierung

„Was ist sonst noch alles wichtig?“
—> Kadenz, Pausengestaltung, Übungsauswahl

 

Im nächsten Teil versuchen wir dann der Frage nachzukommen, was Intensität und Ausbelastung überhaupt bedeuten und wie wir die beiden Variablen in unserem Training nutzen können.

 


Quellen:

[1]
Damas, F. Libardi, C. Ugrinowitsch, C. (2018). The development of skeletal muscle hypertrophy through resistance training: the role of muscle damage and muscle protein synthesis. European Journal of Applied Physiology 118: 485-500.

[2]
Helms, Eric; Morgan, Andy; Valdez, Andrea M. (2019): The Muscle and Strength Pyramid: Training. 1. Auflage. Unabhängig veröffentlicht.

Zurück
Zurück

Warum Gehen die Unterschätzteste aller Sportarten ist

Weiter
Weiter

#Growscience: Teil I - Physiologie